GQ Magazin / 27. Mai 2020 / Wie veröffentlicht
„Snowpiercer“ bei Netflix: Ein Mord in einer Arche
Jennifer Connelly und Daveed Diggs spielen in der Neuauflage von „Snowpiercer“ die Hauptrollen. Die dystopische Serie basiert auf dem Science-Fiction-Drama von Oscargewinner Bong Joon-Ho, geht aber erzählerisch in eine andere Richtung.
Draußen herrschen minus 119 Grad. Der Hochgeschwindigkeitszug “Snowpiercer” von Wilford Industries ist 1.001 Wagen lang und darf niemals anhalten. Fahrzeit seit Start: Sechs Jahre, neun Monate und 26 Tage. Nach einem gescheiterten Geoengineering-Versuch hat sich die Erde in eine polare Eiswüste verwandelt und nur wenige Menschen haben die Katastrophe überlebt: Sie befinden sich in dem Zug „Snowpiercer“, einer speziell für Superreiche geschaffenen Hightech-Arche, die den Planeten bereits 19 mal umrundet hat, ohne zu entgleisen.
Doch auch der ärmere Teil der Bevölkerung hat es im letzten Moment illegal an Bord geschafft – diese neue Unterschicht vegetiert am Ende des Zuges (dem sogenannten „Tail“) vor sich hin und träumt davon, die Macht zu übernehmen. Denn wer „die Maschine kontrolliert, der kontrolliert die Welt“. Die feudale Schicht lebt an der Spitze des Zuges: Dort gibt es immer noch Sushi, einen Nachtclub, edle Salons mit Bediensteten und ein riesiges Aquarium mit Meerestieren.
“Snowpiercer” basiert auf einem Comic
„Snowpiercer“ war ursprünglich ein französischer Comic von Jaques Lob und Benjamin Legrand, der 2013 von dem Regisseur Bong Joon-Ho adaptiert wurde. Der Science-Fiction-Film war das erste englischsprachige Werk des südkoreanischen Ausnahmetalents, das bei der diesjährigen Oscarverleihung für „Parasite“ mit vier Oscars ausgezeichnet wurde und auch in Cannes den Hauptpreis gewonnen hat.
Die Endzeit-Parabel begeisterte Fans und Kritiker gleichermaßen, weil Bong Joon-Hos Version der Geschichte eher einem absurden Kuriositätenkabinett glich und mit Tilda Swinton, Song Kang-Ho, John Hurt, Jamie Bell (in Nebenrollen) und Chris Evans (in der Hauptrolle) auch noch großartig besetzt war. Ein schweres Erbe also, das die Produzenten Graeme Manson („Cube“) und Josh Friedman („Terminator: Dark Fate“) aber nicht davon abgehalten hat, daraus eine TV-Serie zu machen.
Der Zehnteiler des amerikanischen Senders TNT, für den sich in Deutschland Netflix die Rechte gesichert hat, geht erzählerisch in eine andere Richtung – mehr Thriller-Action, verbunden mit einer Detektiv-Story, der gelegentlich allerdings das Brachiale und die Ironie des Spielfilms fehlt.
Ein Mord im Hightech-Express
In der Serie verkörpert der Schauspieler Daveed Diggs einen ehemaligen Polizisten namens Layton, der zur weniger etablierten Schicht der Zuginsassen gehört, die am Ende des Zuges zu überleben versuchen. Die Bedingungen dort sind miserabel und es droht ein Aufstand der „Tailies“. Eines Tages wird der Ex-Cop plötzlich gezwungen, in den vorderen Teil des Zuges zu kommen. An einer Stelle ist es so hell, dass er die Augen schließen muss – Tageslicht flutet durch ein Fenster und sein Blick fällt auf eisige Landschaften, eingehüllt vom ewigen Permafrost.
Layton wird der „Stimme des Zuges“ vorgestellt, die Melanie Cavill heißt und von Jennifer Connelly gespielt wird. Er erfährt von einem grausamen Mord und soll helfen, den Fall aufzuklären, was er widerwillig auch tut, allerdings nur, um die Infrastruktur des Zuges zu infiltrieren, um später die Chancen eines Aufstandes zu erhöhen – denn vom Ende des Zuges droht die Revolution. Später gibt es Tote und es fließt viel Blut, Menschen werden in Tiefschlaf versetzt oder sie verlieren einen Arm. Auch die Droge „Kronol“ ist wieder ein Bestandteil der Handlung.
Die Glaubwürdigkeit von Dystopien
Durch die Mordermittlung hat es zunächst den Anschein, als würde hier nur noch eine gewöhnliche Detektiv-Story à la „Mord im Orientexpress“ erzählt, doch die Handlung ist nie so vorhersehbar, wie man denkt. Zwar fehlt das Rattern des Zuges wie bei Bong Joon-Hos Film (bei dem immer im Hintergrund eine rauschende Tonspur mitläuft), und man hat physisch gesehen weniger das Gefühl, dass man sich in einem richtigen Zug befindet, dafür verfügt die Serie über ein opulentes Innendesign sowie jede Menge Räume, in denen es immer wieder etwas zu entdecken gibt. Der Film bietet zwar eine definitiv besser durchdachte fiktionale Welt (mit verschiedenen Sprachen und Proteinblocks aus Insekten), doch die TV-Serie ist spannend und das Klassensystem innerhalb des Zuges ähnelt mehr der tatsächlichen Struktur eines autoritären Systems. Nur die CGI-Landschaften, die ab und zu durchs Bild huschen, sind grausam billig inszeniert.
Über die Glaubwürdigkeit sollte man sich bei „Snowpiercer“ möglichst wenig Gedanken machen, doch es ist oft nicht leicht, sich auf diese Form der Endzeit-Dystopie einzulassen – nicht selten stolpert man aus dieser idiotischen Perpetuum Mobile-Welt heraus. Immerhin gibt es bei der TV-Serie auch disruptive Elemente: Einmal steckt sich die verurteilte Mörderin aus der ersten Klasse das Glasauge ihres Vaters in den Mund und nuckelt daran herum. Nach der Ermahnung des Vaters spuckt sie das Auge wieder aus und dieser setzt es sich einfach wieder ein.
Jennifer Connelly trägt weite Teile der Handlung, doch auf charismatische Stars wie Ed Harris und Co. muss man leider verzichten. Eine zweite Staffel wurde laut Deadline Hollywood bereits bestätigt – aber eines ist sicher: Entgleist der Zug irgendwann, ist die Serie vorbei.
Die TV-Serie „Snowpiercer“ ist bei Netflix ab dem 25.05. zu sehen.
Diesen Text auf GQ.de lesen.
Bilder Copyright: TNT / Netflix