Oscar-Verleihung 2019
GQ-Magazin / 25. Februar 2019 / Aktualisierte Version
„Roma“ und das Universum des Alfonso Cuarón
„Roma“ von Alfonso Cuarón war einer der Abräumer der diesjährigen Academy Awards in Los Angeles, mit drei Oscars für Kamera, ausländischer Film und Regie. Der Film ist ein episches Meisterwerk in Schwarz-Weiß, der tief eintaucht in die Vergangenheit des mexikanischen Filmemachers. Was macht “Roma” zu so einem persönlichen Film und was waren Cuaróns beste Filme davor?
Der Flur des Stadthauses in Mexiko-City erzählt seine eigene Geschichte: Am Vormittag ist er von Spülwasser bedeckt, nicht selten aber liegen alle paar Meter Hundehaufen herum. Der Kot wird ab und zu von dem Kindermädchen Cleo (Yalitza Aparicio) entfernt, was aber eine vergebliche Aufgabe zu sein scheint. Immer wenn Papa (Fernando Grediaga) mit seinem Ford Galaxy in der Einfahrt auftaucht, gibt es ein riesiges Spektakel, das von den vier Kindern und Cleo mit großen Augen beobachtet wird. Denn das Auto ist viel zu groß für den schmalen Gang – der Vater muss seine gesamte Virtuosität einsetzen, um den Straßenkreuzer ohne Kratzer ins Innere zu manövrieren.
Die Kinder spielen bei Regen im Hof und rennen durch das ganze Haus, stets fürsorglich betreut von Cleo, der Mutter Sofia (Marina de Tavira) und einem weiteren Kindermädchen. Und schon sind wir mitten drin in der autobiographischen Welt von Alfonso Cuarón – „Roma“ ist der bisher persönlichste Film des Regisseurs, der 1961 in Mexiko geboren wurde. Das Drama ist mit zehn Nominierungen einer der Favoriten der diesjährigen Oscarverleihung und hat bereits zahllose weitere Filmpreise gewonnen.
Ein Geist der Gegenwart in der Vergangenheit
„Roma“ ist eine liebevolle, fast zärtliche Erinnerung an die Kindheit des Filmemachers in dem Stadtviertel Colonia Roma, in dem Cuarón aufgewachsen ist. Es scheint zunächst eine unbeschwerte Kindheit gewesen zu sein, die dann aber von einer Trennung der Eltern und Studentenprotesten überschattet wird. Das mixtekische Kindermädchen Cleo steht im Zentrum des Geschehens: Die Kinder lieben sie wie ihre eigene Mutter und sie ist fest in das Leben der gehobenen Mittelstandsfamilie integriert. Auch nachdem Cleo schwanger wird, lässt Sofia sie nicht fallen. Als Sofia von ihrem Ehemann nach einem vermeintlichen Auslandsaufenthalt sitzen gelassen wird, bilden beide Frauen so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft.
Cuarón erzählt dieses Drama auf eine ungewöhnliche Weise: Die Handlung “passiert” einfach, fast wie im normalen Leben. Das Mittel dazu ist eine extrem objektive Kamera, die den Alltag beobachtet. Sie sei wie “ein Geist der Gegenwart, der die Vergangenheit besucht, ohne sich einzumischen”, meinte Cuarón im Dezember bei einem Gespräch mit seinem Langzeit-Kameramann Emmanuel Lubezki in den Raleigh Studios in Hollywood. In langen weitwinkligen Plansequenzen und fast ausschließlich ohne Nahaufnahmen breitet sich das Leben der Famillie aus. Man könnte die Panorama-Kamerafahrten fast als “distanziert” beschreiben – insofern ist es beeindruckend, wie Cuarón trotzdem eine starke emotionale Wucht entfacht, der man sich nicht entziehen kann.
Auch das Timing ist brillant: Die Szenen sind exakt choreographiert – bei jedem Kameraschwenk gibt es etwas Neues zu entdecken. Mit einem komplexen Sounddesign triggert der Regisseur die Vergangenheit zusätzlich an und rekonstruiert seine Erinnerungen mit Original-Familienmöbeln und atmosphärischen Schauplätzen. Eigentlich ist das pures Arthouse-Kino, und so zeigte sich Cuarón in mehreren Interviews auch verwundert über die vielen Oscar-Nominierungen.
Harry Potter, Children of Men und Gravity
Bei Alfonso Cuarón sieht jeder Film anders aus. Wir erinnern uns: Der mexikanische Filmemacher war derjenige, der “Harry Potter und der Gefangene von Askaban” (2004) eine dunklere Stimmung verpasste und damit viel Erfolg hatte. Sein dystopischer Thriller “Children of Men” (2006) wirkt aus heutiger Sicht fast schon visionär: Der Film zeigt Großbritannien in der Zukunft, zerfallen und chaotisch, abgeschottet vom Rest der Welt und überlaufen von Flüchtlingen. Cuarón setzt hier bereits auf lange Szenen ohne Schnitt, die besonders dokumentarisch wirken.
Danach produzierte er “Pans Labyrinth” (2006) zusammen mit seinem mexikanischen Freund Guillermo del Toro (“Shape of Water”). In den nächsten Jahren bereitet er seinen nächsten Triumph vor: Den Weltraum-Thriller “Gravity” (2013) mit Sandra Bullock und George Clooney, der mit sieben Oscars und mehr als 200 weiteren Filmpreisen ausgezeichnet wird. Der 3D-Film erzählt eher eine Art Survival-Story und grenzt sich so auf kluge Weise von klassischem Science-Fiction ab.
Schwangerschaften mit bitteren Komplikationen
Interessanterweise zieht sich das Thema Schwangerschaft durch mehrere Filme von Cuarón. So bekommt die junge Immigrantin Kee (in “Children of Men”) in einer unfruchtbaren Welt zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein Baby. Oft haben Figuren in den Geschichten von Cuarón auch ein Kind verloren, wie Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock”) in “Gravity”. Oder sie haben eine Totgeburt, wie Cleo in “Roma”.
Offenbar hat sich für Alfonso Cuarón bei seinem letzten Werk ein Knoten gelöst – es scheint, als hätte der Regisseur genau den Film gemacht, den er immer machen wollte. Soviel steht fest: Mit “Roma” hat er eine biographische Erinnerung erschaffen, die von nun an einen festen Platz haben wird, neben anderen großen Werken der Filmgeschichte.
“Roma” von Alfonso Cuarón ist als Stream bei Netflix erhältlich.
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