Serienkritik / GQ-Magazin / 3.05.2018
Der Abgrund der amerikanischen Gesellschaft: American Crime
Die Serie „American Crime“ startet bei Amazon Prime Video mit den ersten zwei Staffeln. Das Konzept: Nicht die klassische Verbrecherjagd steht im Vordergrund, sondern das Leben der Betroffenen.
„911. Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst?“- „Ich weiß nicht, ob das hier ein Einbruch war oder so, aber meine Nachbarn…“ - „… die sehen ziemlich tot aus.“ Mit diesem Intro beginnt die Pilotfolge der Crime-Serie, die jetzt neu bei Amazon Prime zu sehen ist.
Der amerikanische Autor John Ridley ist bekannt für besonders harten Realismus: Für seine Drehbuch-Adaption des Rassismus-Dramas „12 Years a Slave“ wurde er 2014 mit einem Oscar ausgezeichnet. Ridley hatte auch die Idee für die Anthologie-Serie „American Crime“, nicht zu verwechseln mit „American Crime Story“. Der Unterschied? „American Crime Story“ ist die Verfilmung von legendären Fällen, die Kriminalgeschichte geschrieben haben, wie der Prozess gegen O.J. Simpson („The People v. O.J. Simpson“) oder die Ermordung von Gianni Versace.
„American Crime“ dagegen erzählt seine Geschichte lieber aus der Sicht von Angehörigen, Opfern und weiteren Beteiligten. Die Serie lässt sich Zeit, sie übernimmt die Perspektive von scheinbar unwichtigen Nebenfiguren und leuchtet auch die Ränder des Geschehens aus. Ermittler oder Staatsanwälte spielen – im Unterschied zu den sonst üblichen Regeln des Genres – nur eine marginale Rolle.
Rassismus, Vergewaltigung und Drogen
Dabei wagt sich „American Crime“ immer tiefer hinein in die Dunkelheit der amerikanischen Gesellschaft: Es geht um Rassismus, Vergewaltigung, Drogenmissbrauch, Diskriminierung sowie die Konflikte der Migranten und Einwanderer. Ähnlich wie bei „Seven Seconds“ (aktuell bei Netfilx) wird bei „American Crime“ genau hingeschaut, wenn es um ethnische Probleme geht.
Die Methode der Filmemacher: Es gibt viele Dialogszenen, die in extremen Closeups gezeigt werden – eine stilisierte Ästhetik also, die sofort Nähe erzeugt. Auch Operationswunden und medizinische Behandlungen werden in Super-Nahaufnahmen gefilmt, was ziemlich schockierend sein kann. Bei der Entgiftung einer Heroinsüchtigen ist die Kamera zum Beispiel so dicht an der sich krümmenden Frau, dass der Entzugsschmerz nahezu körperlich spürbar wird.
„American Crime“ erinnert in seiner Gründlichkeit ein bisschen an „The Wire“ von David Simon: Ohne die viel gerühmte Kult-Krimi-Serie wäre eine Verfilmung dieser Art von Sozialdrama heutzutage vermutlich kaum denkbar.
Was passiert in Staffel 1 & 2?
Bei Amazon Prime Video sind aktuell 21 Episoden von „American Crime“ abrufbar. Routinierte Serien-Schauspieler wie Felicity Huffman („Desperate Housewifes“), Oscar-Preisträger Timothy Hutton („All the Money in the World“), Regina King („Seven Seconds“) und Lili Taylor („Six Feet Under“) spielen jeweils unterschiedliche Charaktere in den ersten beiden Staffeln.
In Staffel 1 geht es um die Ermordung des Kriegsveteranen Matt nach einem Einbruch, bei dem auch seine Frau Gwen verletzt wird. Schnell werden vier Verdächtige verhaftet. Die Handlung folgt den beiden Eltern der Opfer und weiteren Angehörigen. Die Serie schildert außerdem die Erlebnisse der Verdächtigen, die teilweise mit rassistischen Ressentiments konfrontiert sind und Probleme mit Drogen oder ihrer Bandenzugehörigkeit haben.
Die zweite Staffel erzählt von einem Schüler, der auf eine elitäre Privatschule geht. Nachdem Fotos von ihm in den sozialen Medien auftauchen, die ihn unter Drogeneinfluss zeigen, kommt es zu einem Skandal, der weite Kreise zieht. Klassenkonflikte, Mobbing und Hysterie dominieren hier die Handlung. Eine mögliche Vergewaltigung steht im Raum.
Die Serie punktet mit Aktualität
Das Prestigedrama „American Crime“ ist definitiv sehenswert für Zuschauer, die sich für aktuelle gesellschaftliche Hintergründe interessieren: Themen wie Social Media und Mobbing (wie in Staffel 2) wurden bisher auch nicht allzu häufig in Serien verarbeitet. Spannend sind zudem Darsteller wie Regina King (Drei Emmy-Nominierungen für „American Crime“) und Felicity Huffman, die ihre außerordentliche Wandelbarkeit unter Beweis stellen. King spielt aktuell auch bei „Secen Seconds“ mit, ein weiteres großartig inszeniertes Sozialdrama, in dem es um Korruption und Ungerechtigkeit geht.
Die amerikanischen Fans waren begeistert von „American Crime“ und auch die Kritik hat die ABC-Studio-Produktion mit Lob überhäuft. Nachdem bei der dritten Staffel die Quoten dann aber eingebrochen sind, wurde die Serie inzwischen leider von ABC abgesetzt.
„American Crime“ läuft seit dem 1. Mai bei Amazon Prime Video. Alle Episoden der ersten beiden Staffeln sind abrufbar.
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Teaserbild: (C) ABC / Amazon Prime