Filmkritik / 31.08.2021 / BLOG
„Tides“: Die Poesie einer dunklen Welt
Tim Fehlbaum zeigt in seinem Endzeitdrama „Tides“ den Überlebenskampf nach einer globalen Klimakatastrophe. Zehn Jahre ist es her, seitdem der Schweizer Regisseur mit seinem Genre-Debüt „Hell“ in Science-Fiction-Kreisen bekannt wurde. Ist sein neuer Film gelungen?
Am Anfang von „Tides“ geht ein Dröhnen über den leeren Himmel und eine Landekapsel der Weltraumkolonie Kepler stürzt unkontrolliert zum Erdboden herab. Die Astronautin Blake und das verletzte Crewmitglied Tucker sind noch am Leben, eine dritte Person ist tot. Um sie herum ein graues Wattenmeer, eine endlose Ödnis, in der mörderische Gezeiten in einem Sechsstundentakt immer wieder alles unter sich begraben.
Nachdem sich die junge Frau erholt hat, lässt Blake (gespielt von Nora Arnezeder) ihren Kollegen (Sope Dirisu) allein zurück, um die Umgebung zu erkunden. Schnell entdeckt sie erste Zeichen einer intakten Fauna; auch die Luft scheint nicht verseucht zu sein. Das Ziel der Ulysses 2-Mission: Herauszufinden, ob Menschen sich hier noch reproduzieren können, was auf dem Exoplaneten Kepler 209 nicht mehr möglich ist – dort droht in Zukunft das Ende der Zivilisation. In der Vergangenheit, irgendwann im 21. Jahrhundert, war die Erde für die Menschheit unbewohnbar geworden; einem kleinen Teil war es aber gelungen, einen weit entfernten Planeten zu kolonisieren. Blakes Vater führte die erste Mission an und ist seidem verschollen.
Schon bald überstürzen sich die Ereignisse: Eine kleine Gruppe von Bewohnern des Wattenmeers bringt die Raumkapsel in ihre Gewalt und Blake und Tucker geraten in Gefangenschaft. Zu ihrer Überraschung findet die auf Kepler geborene Frau später heraus, dass es Überlebende der ersten Mission gibt – sie stößt auf eine Welt voller Lügen und ideologischer Absurditäten. Die Astronautin (die von Kindheit an indoktriniert wurde, sich der Gemeinschaft unterzuordnen), gerät zwischen die Fronten und steht plötzlich vor einer schwierigen Entscheidung, da ja das Überleben einer ganzen Spezies auf dem Spiel steht.
„Tides“ ist europäisches Genrekino
Tim Fehlbaum ist hierzulande einer der wenigen Regisseure, der sich dem Science-Fiction-Genre widmet: Er debütierte 2011 mit dem von Roland Emmerich produzierten Endzeit-Thriller „Hell“, in dem Deutschland in gleißendes Licht gehüllt war und nur wenige Menschen eine weltweite Katastrophe überlebt hatten. Stars wie Hannah Herzsprung oder Lars Eidinger waren in dem Drama zu sehen, und Fehlbaums „Stilsicherheit“ und „Gefühl für Timing“ wurden von der Kritik gelobt. Das Debüt wurde außerdem mit mehreren Filmpreisen ausgezeichnet und fand sein Publikum auch international. Seltsamerweise dauerte es bis zum nächsten Projekt des schweizer Filmregisseurs zehn Jahre. Auch „Tides“ wurde wieder von Roland Emmerich („Independence Day“) produziert; beim Drehbuch hat die Autorin Mariko Minoguchi („Mein Ende. Dein Anfang.“) mitgearbeitet.
Hollywood steckt seit Jahrzehnten gigantische Millionenbeträge in das Science-Fiction-Kino – das Genre-Publikum ist aus diesem Grund besonders anspruchsvoll. Insofern ist es ein hohes Risiko, mit einer Co-Produktion aus Deutschland und der Schweiz auf den Markt zu gehen. Fehlbaum hat dieses Mal auf Englisch gedreht und seinen Cast internationalisiert, mit Stars wie der Französin Nora Arnezeder („Army of the Dead“) oder dem britischen „Game of Thrones“-Darsteller Iain Glen. Der Endzeit-Thriller bekam Fördergelder, ist aber trotzdem im Vergleich zu großen Produktionen natürlich ein Low-Budget-Film. Doch während zum Beispiel Kevin Costner mit „Waterworld“ (1995) – gedreht mit einem 175-Millionen-Dollar-Budget –, ein völlig überdrehtes Bullshit-Universum erschaffen hat, gelingt Fehlbaum mit „Tides“ das Erstaunliche: Er kreiert eine dunkle, bedrohliche, fragile Welt, die von der Schönheit und atmosphärischen Kargheit des norddeutschen Wattenmeeres inspiriert ist. Zumindest nach der ersten Sichtung sind keine größeren visuellen Fehler zu entdecken, was auf jeden Fall schon mal ein Pluspunkt für das deutsche Genrewerk „Tides“ ist – den SF-Fans sind gnadenlos beim Auffinden von Ungenauigkeiten.
Die Poesie einer dunklen Welt
Das Problem von Dystopien ist, dass es nicht gerade leicht ist, etwas völlig Neuartiges zu erfinden. Und so bewegt sich auch bei „Tides“ das Storytelling im gewohnten Rahmen – irgendwo zwischen „Mad Max“, „Children of Men“, „Waterworld“ und „Alien“. Was allerdings nicht weiter schlimm ist, da man ja von der Poesie (welche diese düstere Welt verströmt), so hingerissen ist. Auch Nora Arnezeder macht als androgyne Einzelkämpferin ihre Sache nicht schlecht.
Die Macher von „Tides“ hätten dieser authentischen postapokalyptischen Welt, die in der Tradition von realistischeren Sci-Fi-Filmen wie zulezt „Ad Astra“ steht, vielleicht noch weitere Panoramafahrten gönnen sollen; alles ist ein wenig zu dunkel und vernebelt geraten; und Markus Förderers Kamera ist immer ewas zu dicht an der Hauptprotagonistin dran. Sie hätten auch – in einem essayistischen Sinne (vielleicht à la Terrence Malick) – die zurückkehrende Natur zum Teil der Erzählung machen können. Doch wer über unterentwickelte Nebenfiguren und die etwas zu generische Handlung hinwegsieht, wird mit „Tides“ ein gelungenes Genrewerk vorfinden; vielleicht sogar eine Art Auftakt für mehr Science-Fiction aus europäischer Hand.
„Tides“ läuft seit dem 26. August 2021 in den deutschen Kinos.
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